Erasmus+ – Heterogenität und Individualisierung als neue Herausforderung
Ein tolles Projekt… und dann kam Corona
Im Laufe von 2019 hatte ich durch die Zusammenarbeit mit einer Erasmuskoordinatorin großen Gefallen daran gefunden, sich auf europäischer Ebene mit Kolleginnen und Kollegen zusammenzutun und voneinander zu lernen. Da die damalige Antragsrunde das Schwerpunktthema Inklusion hatte und die Herausforderungen, die mit einer zunehmend heterogenen Schülerschaft verbunden sind, auch am Gymnasium Feuchtwangen zu spüren sind, war die Idee geboren, eine europäische Fortbildungsreihe mit Schwerpunkt auf Individualisierung als Projekt einzureichen. Schnell hatte ich eine Hand voll Kolleginnen und Kollegen gefunden, welche gerne an Fortbildungen im europäischen Ausland teilnehmen wollten und tatsächlich wurden uns knapp über 20.000 € für insgesamt neun Mobilitäten genehmigt. Bevor wir das Projekt jedoch im Kollegium und auf Schulentwicklungsebene breiter aufstellen konnten, wurden wir durch Corona jäh gestoppt und an einen persönlichen Austausch auf europäischer Ebene war plötzlich nicht mehr zu denken.
Letztendlich dauerte es bis Anfang Mai 2022 bis klar war, dass wir unser Erasmusprojekt wieder aufnehmen konnten. Pfingsten 2022 konnte es dann tatsächlich losgehen und zwar mit einer Hospitation an einer englischen Schule, die in den Bereichen Inklusion und individuelle Förderung sehr viel Erfahrung aufweisen kann.
Back in England after 17 years
Karen Cassar, mit der ich während meiner Zeit als Fremdsprachenassistentin 2005/06 zusammengearbeitet hatte, war inzwischen zur Chefin des Departments für moderne Fremdsprachen aufgestiegen und hieß mich herzlich willkommen. Sie hatte mir einen Stundenplan zusammengestellt, der so vielfältig war wie die Schülerschaft am Pilton Community College – eine Gesamtschule im ländlichen Devon – und der mir viele interessante Einblicke in die Welt der Individualisierung und Unterstützungs- bzw. Inklusionsmaßnahmen gab. Besonders herauszustellen ist dabei, dass die Lehrkraft selten alleine im Klassenzimmer ist. Meistens ist ein teaching assistant mit im Raum, manchmal auch mehrere gleichzeitig, welche entweder als Schulbegleiter einzelne Schülerinnen und Schüler unterstützen oder die Lehrkraft im Allgemeinen (Blätter austeilen, sich um störende Schülerinnen und Schüler kümmern, mit einzelnen Schülerinnen und Schülern Konversationsübungen machen etc.)
Auch durfte ich zwei Unterrichtsstunden in Lerngruppen vorbereiten und halten, die bezüglich ihrer Leistungsfähigkeit eher im unteren Spektrum unserer Mittelschule anzusiedeln sind. Eine echte Herausforderung, die jedoch handzuhaben war, weil ich eben nicht die einzige Lehrkraft im Klassenzimmer war. Insgesamt habe ich den Eindruck gewonnen, dass die Integration von leistungsschwachen und verhaltensauffälligen Schülerinnen und Schülern erfolgreich gelingen kann, wenn die personellen Ressourcen so aufgestockt werden, dass eine zweite Person mit pädagogischer Ausbildung der Lehrkraft zuarbeitet und mithilft, dass der Unterricht störungs- und stressfrei ablaufen kann.
Ebenso durfte ich mit Klassen arbeiten, die in sogenannten Top Set-Gruppen auf einem höheren Level lernen und deren Unterricht akademischer ausgerichtet ist. Für eine dieser Klassen hatte meine 8c vor meiner Abreise Briefe bzw. kleine Poster vorbereitet, auf denen die Schülerinnen und Schüler z. B. Feuchtwangen, deutsche Traditionen, ihren Tagesablauf oder typisch deutsches Essen vorstellten. Diese nahm ich mit nach Barnstaple, wo man die Grüße aus Deutschland begeistert las und fleißig an den jeweiligen Antworten arbeitete. Schon einen Tag später konnte man auf der Pilton Homepage Folgendes lesen: „Mrs Cassar’s year 9 class were also excited to receive letters from Karin’s class in Germany and are busy writing their responses.”
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Kopenhagen - viel gelernt von den Kolleginnen und Kollegen
August 2022 durfte ich schließlich noch an einem strukturierten Fortbildungskurs zum Thema Schülerzentrierung und Individuelle Förderung teilnehmen. Die Kolleginnen und Kollegen kamen aus ganz Europa und brachten viel Erfahrung aus diesem Bereich mit, sodass der kollegiale Austausch fast noch gewinnbringender war als die Impulse der Referentin. Ein ausführlicher Bericht folgt!
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Karin Hitz, OStRin
Finnland - starker Fokus auf individuelle Förderung
„Lernen von den Besten: Das finnische Schulsystem“ – So versprach es der Titel der Erasmus+-Fortbildung, zu der wir uns im vergangenen Schuljahr erwartungsvoll angemeldet hatten. In den Sommerferien 2022 war es dann endlich soweit: Wir packten unsere Koffer und machten uns von Deutschland aus auf den Weg in die finnische Hauptstadt Helsinki, um dort Einblicke in das Bildungssystem Finnlands zu erhalten und zu erfahren, welche Faktoren eine entscheidende Rolle für die PISA-Erfolge des Landes spielen.
Nachdem wir trotz des Zug- und Flugchaos endlich in Helsinki angekommen waren, begaben wir uns zunächst allein, dann mit einer geführten Tour auf die Entdeckung der Stadt und lernten dabei schon einiges über Land und Leute. Am Montagvormittag startete dann das offizielle Kursprogramm mit einem Vortrag des Organisators Arne über die Hintergründe und Besonderheiten des finnischen Schulsystems: Da Finnland nur über wenige natürliche Ressourcen verfügt, verlagerte sich der Fokus schon früh auf die Ressource „Mensch“, um das Land wettbewerbsfähig zu halten. Somit stehen seit jeher die 5,5 Millionen Einwohner des Landes im Zentrum der Bemühungen, damit möglichst kein Bürger dabei als Ressource „verloren“ geht. Daher legt auch das finnische Bildungswesen großen Wert auf individuelle Förderung eines jeden Einzelnen. So setzt man in Finnland beispielsweise auf kleinere Gruppen (sieben Kinder pro Erzieher*in, ca. 17 Schüler*innen pro Klasse) und es gibt so genannte „special needs“-Kurse an den Schulen, in denen Lehrkräfte gemeinsam mit den Schülern*innen individuell daran arbeiten, Lücken im Stoff zu schließen und so wieder den Anschluss an die Klasse zu finden. Aufgrund dieser individuellen Förderung ist es auch nicht nötig, dass Schüler*innen Jahrgangsstufen wiederholen, sondern für gewöhnlich rückt jede*r in die nächste Klasse vor.
Nach diesem ersten Einblick in die Charakteristika des finnischen Schulsystems stand am Nachmittag dann das gegenseitige Kennenlernen auf dem Programm der Kursteilnehmer*innen. Da wir etwa 50 Lehrkräfte aus verschiedenen europäischen Ländern waren, konnten wir viele verschiedene Eindrücke aus Bildungssystemen in anderen deutschen Bundesländern, aber auch in Spanien, Italien, Polen, Tschechien, Österreich gewinnen. Zum Abschluss des ersten Tages gab es noch ein gemeinsames Kaffeetrinken, zu dem jede*r eine Kleinigkeit zu essen oder zu trinken aus seiner Heimat beigesteuert hatte. Das Buffet war riesig und so hatten wir auch an den folgenden Tagen immer eine leckere Verpflegung in den Pausen.
Am Dienstag waren wir dann vormittags zu Gast in einer Gesamtschule in der Nähe von Helsinki, wo wir von der Rektorin und dem dortigen Schulhund schon erwartet wurden. Sie stellte uns ihre Schule vor und teilte uns anschließend in Kleingruppen auf, die dann von Schülern*innen durch das Schulhaus und durch verschiedene Unterrichtsstunden geführt wurden. Unser Fazit nach zahlreichen Stippvisiten in unterschiedlichen Fächern und Jahrgangsstufen war, dass sich der konkrete Unterrichtsalltag nicht so sehr von unserem Unterricht am Gymnasium in Feuchtwangen unterscheidet. Nachmittags waren wir dann wieder im Meeting Park in Helsinki, wo uns ein Grundschulrektor über die organisatorischen Strukturen in seiner Schule sowie das innovative Raumkonzept informierte.
Am Mittwoch besuchten wir einen Vortrag zum Thema „Positive Pädagogik“. Dabei erklärte uns ein Trainer der „See the Good“-Kampagne, wie wichtig es ist, Stärken auszubauen und Schwächen nicht zu sehr in den Blick zu nehmen. Eine Möglichkeit, bewusst an den eigenen Stärken sowie an den Stärken der Schüler*innen zu arbeiten, bietet die App See the Good, die wir dann direkt vor Ort alle zusammen ausprobierten.
Am Donnerstag fuhren wir an die Leppävaaren-Upper Secondary School, eine erst vor kurzem gebaute Schule, die mit vielen besonderen Einrichtungsmerkmalen aufwarten konnte: Beispielsweise gibt es Schallschutzkabinen, in den man ungestört arbeiten oder telefonieren kann, und die Tische sind teils höhenverstellbar, sodass die Schüler*innen im Stehen wie im Sitzen arbeiten können. Mit diesen Eindrücken im Gepäck machten wir uns direkt von der Schule aus wieder auf den Weg zum Flughafen, um den Rückflug nach Deutschland anzutreten.
Zusammenfassend kann man sagen, dass sich die Fortbildung auf alle Fälle gelohnt hat: Wir haben Einblicke in das finnische Schulsystem, aber auch die dortige Kultur bekommen und vor allem in den Grundgedanken, dass jeder Einzelne zählt und individuell gefördert werden sollte. Allerdings haben wir auch festgestellt, dass manches bei uns so aufgrund anderer Rahmenbedingungen nicht 1:1 umgesetzt werden kann. Insgesamt können wir die Fortbildung sehr empfehlen und werden auch gerne in Zukunft noch einmal an einer Erasmus+-Fortbildung teilnehmen.
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StRin Annika Weske und StRin Christina Dummel
Dieses Projekt wurde mit Unterstützung der Europäischen Kommission finanziert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung (Mitteilung) trägt allein der Verfasser; die Kommission haftet nicht für die weitere Verwendung der darin enthaltenen Angaben.